„Du musst der Hilfe nicht hinterherlaufen“

von Anna Neumann

22.09.2023

Die Diakonie An Sieg und Rhein berät, begleitet und unterstützt Menschen in schwierigen Lebenslagen. Nun geht sie einen großen Schritt nach vorn und entwickelt die Sozialberatung der Zukunft.


Petra Biesenthal sprach mit Geschäftsführer Patrick Ehmann über die Idee einer Integrierten Sozialberatung.

Was verbirgt sich hinter der Idee einer integrierten Sozialberatung?

Wir stellen fest, dass Menschen vermehrt mit komplexen Lebenslagen zu uns kommen, zum Beispiel Schwangerschaft gepaart mit Alkoholproblem und Migrationshintergrund. Im bisherigen Hilfesystem müssen diese Menschen mehrere Beratungsstellen aufsuchen und werden von einer zur nächsten weiter verwiesen. Es gibt keinen Ort, an dem Menschen mit ihrer komplexen Lebenslage in ihrer Gesamtheit begegnet wird.

An diesem Punkt setzt die Integrierte Sozialberatung an. Wir sagen „Egal wo du bist, bist du richtig. Du kannst mit deinem Strauß an Themen zu uns kommen und wir stellen sicher, dass die Hilfe da ist, wo du bist. Du musst der Hilfe nicht hinterherlaufen.“

Bisher musste ein Klient bzw. eine Klientin also an mehrere Türen klopfen und seine bzw. ihre Geschichte immer wieder neu erzählen?

Ja, die Menschen müssen sich auch räumlich immer wieder neu orientieren, von A nach B kommen. Die nächste Beratungsstelle ist in einem anderen Gebäude oder sogar in einer anderen Stadt. Dadurch wird eine Situation, die eh nicht leicht ist, nochmal schwieriger gemacht aufgrund der äußeren Umstände. Das versuchen wir zu verhindern und sagen „Komm zu uns, in Präsenz oder digital“ und dann stellen wir sicher, dass bei Bedarf per Video weitere Fachleute dazugeschaltet werden.

Das setzt voraus, dass alle Mitarbeitenden technisch gut ausgestattet sind. Wie ist da der Stand?

Wir sind an dem Punkt, dass wir die Idee entwickelt haben und jetzt in die praktische Umsetzung gehen. Wir benötigen ungefähr drei Jahre, um ein funktionierendes System zu entwickeln. Es gibt drei Entwicklungsbereiche: die technische Ebene mit dem passenden Rechner, Internetzugang und Bandbreite, sowie die Entwicklung einer geeigneten Software. Die zweite Ebene ist die Weiterentwicklung der persönlichen Fähigkeiten der Mitarbeitenden, denn es wird sich etwas ändern an der Art und Weise, wie soziale Arbeit geleistet wird. Bislang finden Beratungen in der Regel im Einzelgespräch statt. Mit der Integrierten Sozialberatung beraten mehrere Personen gemeinsam einen Klienten oder eine Klientin. Dadurch wird die erstberatende Person nicht mehr nur in ihrer Fachlichkeit gefragt, sondern auch als Vertrauensperson. Neu ist auch, dass Kolleginnen und Kollegen gegenseitig Einsicht haben in die Art und Weise ihrer Arbeit. Die dritte Ebene ist die Organisation, die sich damit befasst, wie Spezialisten ad-hoc zugeschaltet werden können.

Wählt der Erstberater bzw. die Erstberaterin einen weiteren Spezialisten aus oder erfolgt die Zuschaltung automatisiert?

Die aktuelle Überlegung ist, die Zuweisung automatisch über das System laufen zu lassen. Bevor eine weitere Beratungsperson dazu geschaltet wird, soll sie Informationen über den Klienten in Form eines Kurz-Steckbriefs erhalten, um ein Grundverständnis für die Situation zu bekommen. Das alles wird im Rahmen eines Prototyps entwickelt.

Wie ist die zeitliche Planung zur Einführung der Integrierten Sozialberatung?

Wir rechnen aktuell mit einem Jahr für die Entwicklung des Prototyps und zwei Jahre für die Testphase. An der Entwicklung sollen Mitarbeitende aus fünf fachlichen Richtungen beteiligt werden, ihre Expertise von Anfang an einbringen und die praktische Umsetzung testen. Danach werden wir entscheiden, wie wir den Prototyp intern ausweiten, vielleicht auch über die Diakonie hinaus.

Welche Ressourcen werden für die Einführung der Integrierten Sozialberatung benötigt?

Wir gehen von einer dreijährigen Entwicklungszeit aus und rechnen mit mehr als einer Million Euro. Dazu sprechen wir mit unterschiedlichen Finanziers: Stiftungen und Lotterien, staatliche Behörden, die Entwicklungsprojekte unterstützen, und Venture-Capital-Gesellschaften, die sich auf den sozialen Bereich konzentrieren und Gutes vorantreiben wollen. Die Gespräche laufen an vielen Stellen gut und ich bin optimistisch.

Welche Auswirkung hat die Einführung der Integrierten Sozialberatung für die Kirchengemeinden?

Ich kann mir perspektivisch vorstellen, dass der Erstkontakt der Integrierten Sozialberatung nicht nur an Fachberatungsstellen geknüpft ist. Dann können Menschen, die in Kirchengemeinden Klienten beraten, auch Expertinnen dazu schalten. Damit hätten Kirchengemeinden einen großen Vorteil: Sie könnten das gesamte Spektrum der Fachberatungen unmittelbar bei sich vor Ort anbieten. Das ist ein Baustein, um als Evangelische Kirche in der Fläche präsent zu sein.

 

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