50 Jahre Suchthilfe – Blick in die Geschichte

von Anna Neumann

29.11.2023

Ihre Aufgaben sind sperrig. Sie hat wiederholt ordentlich Gegenwind zu spüren bekommen. Zugleich hat sie immer wertvolle Arbeit geleistet und sich konsequent gut weiterentwickelt.


Nun besteht die Suchthilfe der Diakonie An Sieg und Rhein 50 Jahre.So hat alles begonnen: 1973 übernimmt die Diakonie die Trägerschaft für die damals so genannte Drogenberatungsstelle, die ein Jahr zuvor dank eines Arbeitskreises des Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM) ihre Arbeit aufgenommen hat. Ihren Sitz hat die Stelle in der Ringstraße 22 in Siegburg. Ein Diplom-Psychologe arbeitet dort. Mit 20 Stunden hilft eine Verwaltungskraft. Ein kleiner wichtiger Anfang.

Und der Beginn einer kontinuierlichen Erweiterung zu einem Hilfenetzwerk. Das Team vergrößert sich um Stellen für Sozialarbeit und ein Jahrespraktikum. In Troisdorf – dem heutigen Sitz der Suchthilfe – entsteht 1978 erst eine Nebenstelle; vier Jahre später muss sie wieder geschlossen werden. 1980 kommt eine Nebenstelle in Königswinter hinzu. Innerhalb von Siegburg zieht die Stelle um – in die Scherengasse, dann in die Ringstraße 60.

Spannend ist die inhaltliche Weiterentwicklung. 1990 nimmt die Stelle teil am Bundesmodellprojekt „Mobile Drogenprävention“. 1991 wird der Kontaktladen „Café Koko“ eröffnet, angesiedelt in der Wilhelmstraße in Troisdorf. Ein echter Meilenstein.

Niedrigschwellige Hilfe

Die Probleme sind groß: In den Anfangsjahren sorgen die neu aufgekommenen illegalen Drogen für Not und Entsetzen. Eine regelrechte Opiatwelle führt zu vielen Drogentoten. Der erste Leiter der Drogenberatungsstelle, Wolfgang Esser, kritisiert in seinem Jahresbericht für 1975 eine „gezielte Beschwichtigungskampagne“ seitens offizieller Stellen. Seine Stelle verzeichne einen Anstieg der „Drogenproblematik“, pro Woche drei Neuzugänge. Die Szene wirke nur beruhigt, weil jugendliche Abhängige zum Teil längere Gefängnisstrafen verbüßen. Esser beklagt im Blick auf Alkoholsucht einen „Komplott zwischen der suchtstoffproduzierenden Industrie und den Interessen des Staates, der hohe Steuern kassiert“.

Die Drogenberatungsstelle steht von Beginn an für die Idee, Abhängigen niedrigschwellig zu helfen. „Schadensminimierung, die Verschlimmerung der mit dem Substanzkonsum verbunden Risiken vermindern und Konsument:innen stabilisieren“, nennt Jürgen Graff die Grundgedanken. Graff leitet seit 2018 die Diakonie-Suchthilfe. Einer seiner Vorgänger, Peter Wahlbrink, formuliert 1999 im Diakonie-Jahresbericht: „Die Drogenhilfe stellt sich an die Seite einer Randgruppe unserer Gesellschaft, die keine Lobby hat.“ Mit ihren Hilfen begegne die Drogenberatung der „individuellen Verelendung“.

Hilfe statt Ausgrenzung oder Kriminalisierung

Das „Café Koko“ ist ein Kernstück des niedrigschwelligen Ansatzes: Kontakt und Kommunikation statt Ausgrenzung, Betreuung statt reine Ausstiegsorientierung, Überlebenshilfen statt Alleinsein mit Heroin- oder Kokain-Abhängigkeit, Hilfe statt Kriminalisierung. Eine akzeptierende Arbeit. Jürgen Graff: „Es ging und geht darum, die Menschen in ihrer Lebenssituation anzunehmen.“

Das kommt an, wie das Zitat eines Kontaktladenbesuchers im Diakonie-Jahresbericht 2002 zeigt: „Es tut mal richtig gut mit jemandem zu reden, der nicht drauf ist und sich wirklich für mich interessiert.“ In einem aktuellen Video der Suchthilfe erzählt ein Besucher, wie er vor dem ersten Besuch die Sorge hatte, ihm stehe „auf der Stirn geschrieben, was für ein schlechter Mensch“ er sei. Werden alle mit dem Finger auf ihn zeigen? Die Erfahrung war umgekehrt, wie ein weiterer Klient im Video sagt: „Man fühlte sich wohl von Anfang an.“

Sucht ernst nehmen

Für Jürgen Graff ist die Stelle auch deshalb von Beginn an fortschrittlich unterwegs und ihrer Zeit oft voraus, weil sie sich frühzeitig von der Trennung zwischen illegalen Drogen und legalen Suchtmitteln löst. Die Suchthilfe ist für alle da, ob sie Alkohol, Opiate, Cannabis
oder andere Substanzen zu sich nehmen. Auch für neue Süchte wie beispielsweise Spiel- und Medienabhängigkeit. Menschen nicht ausgrenzen, Sucht ernst nehmen – das ist das Credo.

Die Suchthilfe gehört zu den frühen Befürwortern der Ersatzstoffvergabe mit Methadon. Gemeinsam mit engagierten Ärztinnen plant und gestaltet sie die Methadonstoffvergabe für Opiatkonsument*innen im Rhein-Sieg-Kreis. Als das Land NRW Anfang der neunziger Jahre das Modellprojekt „Fachberater Methadon“ auflegt, ist die Diakonie-Suchthilfe dabei. Seit den späten Neunzigern übernimmt sie die psychosoziale Betreuung Substituierter für den gesamten rechtsrheinischen Teil des Rhein-Sieg-Kreises.

Auch in der Justizvollzugsanstalt Siegburg sind Mitarbeitende der Drogenberatungsstelle aktiv. Die „Knastarbeit“ wird als „harm reduction“-Arbeit für inhaftierte Drogenkonsument*innen angesehen. Parallel fordert die Drogenberatung Möglichkeiten der Entkriminalisierung.

Vorbeugende Arbeit

Mit den vielfältigen Beratungen, mit der Nachsorge nach einer mehrmonatigen Rehabilitationsbehandlung in einer Klinik sowie mit den Vorbeugungsangeboten ist die Suchthilfe immer auch dicht dran an der Hilfe zu einem suchtfreien Leben. 1995 errichtet sie die Fachstelle Suchtprävention; heute heißt sie Fachstelle für Prävention und Gesundheitsförderung. 1998 schafft sie in der Troisdorfer Innenstadt mit drei Apartments eine Möglichkeit für Betreutes Wohnen.

Ab 1997 führt die Suchthilfe ein Qualitätsmanagementsystem ein. 2004 wird die Suchthilfe zertifiziert und erhält den Titel: Diakonie Fachstelle Sucht. Mehrere Rezertifizierungen folgen.

Schwierig und wichtig

Im Jahr 2001 dann ein großer räumlicher Sprung: Der Kontaktladen „Café Koko“ wird erweitert um Krankenpflege und – ein neuer Meilenstein – er bekommt größere Räume. In der Poststraße 91 in Troisdorf sind nun 360 Quadratmeter für diese Arbeit angemietet. Schon mitgeplant ist das, was bald darauf hinzukommt: der Drogenkonsumraum (DKR). 2004 wird der DKR eingeweiht.

In den folgenden Jahren schraubt das Team an den Öffnungszeiten. Sie werden erweitert, auch auf das Wochenende. Schließlich sind Café Koko und DKR vier Stunden täglich geöffnet. Zur Eröffnung des DKR 2004 kommt die damalige NRW-Gesundheitsministerin Birgit Fischer und benennt die Ziele: „das Überleben sichern, wieder eine Lebensperspektive eröffnen und – als Fernziel – einen Weg aus der Abhängigkeit weisen“. Der DKR sei eine „schwierige und wichtige Aufgabe“.

Alle Hilfen unter einem Dach

Die Poststraße in Troisdorf wird sich 2011/2012 noch einmal als Sitz der Suchthilfe festigen, denn schließlich zieht der gesamte Fachbereich dort mit ein. Beratungs- und Geschäftsstelle verlassen Siegburg, sind nun auch in dem Postgebäude gegenüber des Troisdorfer Bahnhofs angesiedelt. Alle Hilfen sind dort an zentraler Stelle unter einem Dach. Aber auch in der Region ist die Suchthilfe vor Ort bei den Menschen, Nebenstellen in Königswinter, Eitorf und Niederkassel werden fortgeführt.

Suchthilfe – das ist immer auch sozial- und gesellschaftspolitische Arbeit, sagt Jürgen Graff. „Akzeptanz der Hilfen sowohl von der Zielgruppe als auch von der Bevölkerung ist immer ein Thema.“ Das Café Koko und der Drogenkonsumraum sowie die Beratungsstelle im Postgebäude sind zunächst in der Bevölkerung nicht unumstritten, mittlerweile etabliert und akzeptiert. Kommunikation mit der Bevölkerung, insbesondere mit Anwohner*innen ist immer notwendig. Der von Beginn an bestehende „Runde Tisch Kontaktladen“ u.a. mit Vertreter:innen der Anwohner:innen und Ordnungsbehörden tagt zweimal im Jahr. Als Auseinandersetzungen in der Troisdorfer Innenstadt zunehmen, ist das Projekt Streetwork Kuttgasse die Antwort. Mitarbeitende des Kontaktladens sind seit 2015 in Kooperation mit der Stadt und der Polizei in der City unterwegs. Abhängige können sich an dem Platz treffen, finden einen Unterstand und Bänke. So werden Szenetreffpunkte abgelöst, an denen sich Anwohner:innen gestört fühlen.

Kinder im Blick

Ähnlich wie Angehörige weit über die Anfangsjahre der Suchtberatung hinaus, sind auch Kinder aus suchtbelasteten Lebensgemeinschaften eine oft eher vernachlässigte Gruppe. Seit der zweiten Hälfte der Nuller Jahre nimmt die Suchthilfe besonders die Kinder aus suchtbelasteten Familien in den Fokus und baut vielfältige Hilfen für sie und ihr Umfeld auf. Freizeitaktivitäten werden organsiert, Kinder-. Jugend- und Elterngruppen aufgebaut, Hilfen zur Erziehung gegeben, die Arbeitsbereiche „Kinder suchtkranker Eltern“ (KisE) und Hilfen zur Erziehung etabliert.

Zwecks weiterer Intensivierung der Arbeit mit Kindern aus suchtbelasteten Familien und deren Eltern nimmt die gesamte Mitarbeiter*innenschaft der Suchthilfe seit 2017 an FITKIDS teil, einem Organisationsentwicklungsprogramm für die praktische Arbeit von Drogenberatungsstellen, die das Thema „Kinder“ nachhaltig in ihre Arbeit integrieren möchten. Im April 2022 wird dieser Prozess mit einer erfolgreichen Zertifizierung abgeschlossen.

Hilfen ausbauen

Ein Herzenswunsch von Jürgen Graff ist der weitere Ausbau der Hilfen für Kinder suchtkranker Eltern. Denn es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Sucht sich in Familien wiederholt. Kinder suchtkranker Eltern sind einem deutlich höheren Risiko für eine Suchterkrankung ausgesetzt als andere Kinder. Dieses Risiko für die betroffenen Kinder lässt sich durch vielfältige Präventionsmaßnahmen reduzieren, die sich direkt an die Kinder, die Eltern oder die gesamte Familie richten können.

Graff: „Damit kann dieser teuflische Kreislauf durchbrochen werden. Mit frühzeitigen Maßnahmen wird vielen Kindern ein besseres Leben ermöglicht. Die Kosten, die uns heute durch die Angebote entstehen, sparen der Gesellschaft in Zukunft sehr viel Geld, da Kosten einer Suchterkrankung um ein Vielfaches höher sind.“

Aufsuchende Dienste, Ambulante Nachsorge – die Angebotspalette der Suchthilfe ist noch wesentlich breiter. Mit den „Rhein-Sieg-Kreis-Fegern“ kommt 2020 ein Arbeits(heranführungs)projekt für langjährig arbeitslose chronifizierte Suchtkranke, gefördert vom Kreissozialamt, hinzu.

Zahlen steigen wieder

In jüngster Zeit schnellt die Zahl der Drogentoten wieder in die Höhe. Dass die Zahlen durch die Decke gehen, macht Suchthilfe-Leiter Jürgen Graff enorme Sorgen. Zumal die Gründe nicht geklärt sind. Während der Corona-Pandemie waren viele Hilfsangebote zurückgefahren, wobei die Suchthilfe in Troisdorf weitestgehend geöffnet blieb.

Die verlorenen Hilfen könnten nun die Spätfolgen sein. „Ohnehin vorhandene Rückzugstendenzen verstärkten sich“, so Graff. Naheliegend ist auch, dass die derzeitige Kokswelle, der Handel mit sehr reinem Stoff und der erneut wachsende Konsum von Crack zu den Ursachen zählen. Statistik für den Rhein-Sieg-Kreis liegt noch nicht vor.

Zu längerem Leben verholfen

Jedenfalls fällt die Bilanz nach 50 Jahren Suchthilfe-Arbeit entsprechend ambivalent aus. Graff: „Wir haben viel für die Akzeptanz getan, sind weitgehend aus der Schmuddelecke herausgekommen.“ Wirklich froh ist er, dass „wir sehr vielen Menschen geholfen haben, zu überleben, besser und deutlich länger zu leben“. Substituierte konnten alt werden.

Innovation, stetige Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung der Hilfen – auch dank der engagierten Mitarbeitenden – sind und bleiben wichtig, betont Jürgen Graff. Als Superintendentin Almut van Niekerk 2011 Vorstandsvorsitzende der Diakonie An Sieg und Rhein wird, erklärt sie im Blick auf alle Diakonie-Mitarbeitenden: „Sie übernehmen Verantwortung, nehmen wahr, hören zu und kümmern sich. Grundlage dafür ist die Ausrichtung der Tätigkeit am christlichen Menschenbild, dazu kommen eine gute Ausbildung und regelmäßige Weiterbildungen.“

Bezüglich Innovationen ist für Jürgen Graff noch wichtig, sie auch im Miteinander mit den Klient:innen zu realisieren. Dankbar ist er für die hervorragende Zusammenarbeit mit den zuständigen Ämtern und Behörden im Rhein-Sieg-Kreis, die maßgeblich die Hilfen mitfinanzieren. Verschiedene Kooperationen ermöglichen Innovationen, ein Beispiel ist die Online-Beratung bei Alkohol- oder Drogenproblemen.

Hilfe bei Alkohol- und Drogenproblemen