„Ich bin an meine Grenzen geraten“
von Anna Neumann
21.11.2024
Als er seine Geschichte zu erzählen beginnt, ist seine Frau erstmals für einen Probetag in einer Tagespflege, berichtet Dieter Thomas (71). Er hofft sehr, dass die Probe zum Erfolg führt. „Ich möchte sie gern dort anmelden.“ Zwei Tage die Woche. „Ich bin so weit, dass ich freie Tage brauche“, sagt er. Denn die Demenz-Erkrankung seiner Ehefrau sei mittlerweile rasant und weit fortgeschritten. „Ich bin an meine Grenzen geraten.“
Natürlich würde er freie Zeiten auch für Erledigungen benötigen. Aber es geht ihm auch darum, „einfach mal gedanklich frei zu sein“. Abstand bekommen vom manchmal auch nervigen Verhalten seiner Frau. Pause haben – statt jede Sekunde darauf achten zu müssen, ob sie zum Beispiel einfach die Wohnungstür öffnet und offenstehen lässt. Ein, zwei Tage die Woche Entlastung durch Tagespflege – darum geht es ihm. Nicht mehr: „Ich will meine Frau nicht weggeben.“
Der Alltag wird monoton
Als das Paar Goldene Hochzeit hatte, war ihm erst gar nicht nach feiern. Aber dann gab der Sohn einen Anstoß, der Grill wurde aufgestellt und es kam wie es kam: Nachbarn und Freunde schneiten spontan zum Gratulieren herein. „Es war ein sehr schöner Tag und meine Frau hat es auch mitbekommen.“ Ein Tag, der den monoton gewordenen Alltag unterbrochen hat. Ein Tag, der zum Beispiel an die „Oma-Tage“ erinnert, als die drei Enkel noch klein waren und sehr zur Freude des Paares schöne Zeiten bei ihnen verbrachten.
Die Veränderungen kamen rasend schnell. Im Sommer vor drei Jahren gab es nur erst erste Anzeichen. Eine einfache Rechenoperation missglückt. Eine kleine Gedächtnislücke. Passiert halt mal. Doch schon im Herbst konsultierte die Familie Ärzte, weil die Lücken nicht mehr zu übersehen waren.
Eine Krankheit in Schüben
Die Einschränkungen kämen schubweise. „Es gibt auch Tage, wo es besser geht.“ Aber nach dem nächsten Schub werde es nicht wieder wie zuvor. Längst wisse seine Frau nicht mehr, „wie das Leben funktioniert“.
Das war immer anders. Seine Frau hat die beiden Kinder großgezogen, den Haushalt gemacht und fast immer auch als Verkäuferin gearbeitet. Er selbst war nach einer Umschulung vom Handwerk in eine Büro-Tätigkeit in den öffentlichen Dienst gewechselt. Früher hat die Frau alles im Haushalt erledigt, jetzt muss er komplett übernehmen
Bei jedem Schritt unterstützen
Inzwischen hat seine Frau Pflegestufe 4. Er müsse ihr Schritt für Schritt sagen, was zu tun ist. „Zwei Sachen auf einmal? Das ist schon zu viel.“ Allein kommt sie nicht klar. Er sagt ihr, dass sie ins Bad gehen soll. Er gibt ihr die Seife in die Hand. Er sagt ihr, dass sie sich auch unter den Armen waschen soll. Sie fragt: „Und jetzt?“
Dieter Thomas musste sich einlesen, um zu verstehen, was passiert. Er musste lernen, dass es eine Demenz gibt, an der man relativ früh erkranken kann und die besonders schnell fortschreitet. Er holte sich Rat bei der „Hilfe für Menschen im Alter“ im Sozialpsychiatrischen Zentrum (SPZ) der Diakonie An Sieg und Rhein. Diese besteht seit nunmehr 20 Jahren.
Hilfen im SPZ
2004 – Das Diakonische Werk An Sieg und Rhein bringt Hilfe- und Unterstützungsangebote für Menschen mit psychischen Alterserkrankungen auf den Weg. Ein Antrag bei der „Aktion Mensch“ fördert das Vorhaben drei Jahre lang. Das Ziel: Menschen mit Depression und Demenz und ihre Angehörigen profitieren von einer vielfältigen Angebotspalette, die ihre Lebensqualität spürbar hebt.
Aufbauarbeit steht an: passgenaue Beratung und Begleitung konzipieren. Gruppen für Angehörige und Betroffene gründen. Ehrenamtliche so einbinden, dass sie das Arbeitsfeld bereichern, Betroffene unterstützen und sie selbst ihren Einsatz als Gewinn erleben. Das alles im SPZ Troisdorf für Troisdorf, Lohmar und Niederkassel.
„Projekt“ heißt normalerweise: befristet. Nicht doch hier. Die Kommunen Troisdorf und Lohmar sind überzeugt und beschließen, die Angebote zukünftig zu unterstützen. Der Rhein-Sieg-Kreis sieht sie als Leuchtturmprojekt und finanziert sie seit 2009 als Regelangebot aller SPZ’ s. „Dafür sind wir sehr dankbar, weil wir damit fachlich gute Arbeit leisten können“, sagt Jutta Spoddig, die Teamleiterin der „Hilfe für Menschen im Alter“.
Viele Veränderungen
2024 – Vieles hat sich inhaltlich verändert in den letzten 20 Jahren: Die Erkrankung Demenz – 2004 noch weitgehend tabuisiert – ist in der Öffentlichkeit angekommen. Die Pflegeversicherung bietet differenziertere Unterstützung. Eine Vielzahl von Betreuungs- und Beratungsangebote sind entstanden.
Aber auch: Es gibt mehr Unübersichtlichkeit, der Pflegenotstand führt zu prekären Pflegesituationen – zu Hause und in den Einrichtungen. Altersarmut wird immer mehr Thema, und Vereinsamung auch.
Umso wichtiger, dass Jutta Spoddig versichern kann: „Wir bleiben weiterhin an Ihrer Seite. Persönlich und zuverlässig mit Beratung und Begleitung. Gesellig in vielfältigen Gruppen, zum Beispiel ,aktiv kreativ lecker‘ oder beim Austausch mit pflegenden Angehörigen. Und wir pflegen unser Netzwerk. Damit Sie passgenaue Hilfen erhalten.“
Dankbar für eine Kur
Dieter Thomas geht seit Jahresbeginn zum Gesprächskreis für pflegende Angehörige, eines der Angebote im SPZ. Das sei ein sehr netter Kreis, erzählt er. Als erstes habe er gestaunt, wie viele Frauen ihre Männer pflegen – er hatte ja seine Situation vor Augen. Auch die Beratung im SPZ habe ihm sehr geholfen. Nun setzt er zusätzlich auf die Tagespflege, um einerseits weiter mit seiner Frau zusammenleben zu können und andererseits spürbar entlastet zu werden.
Und dann gibt es noch etwas, und darauf hat sich Dieter Thomas schon lange im Vorfeld gefreut: eine Kur für sie beide. Seine Frau wird versorgt. Er bekommt verschiedene Hilfen, Physio und auch psychologische Unterstützung. „Ich brauche jemanden, der mir den Weg weist, bestimmte Situationen zu meistern.“
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Demenz, Depression, Ängste – Angebote bei psychischen Alterserkrankungen