Jürgen Graff
Jürgen Graff Foto: Diakonie An Sieg und Rhein / Sophie Schmitz

„Es gibt viele Wege. Nicht alle führen aus der Sucht heraus“

von Oeffentlichkeitsarbeit EKASuR

16.08.2024

Jürgen Graff, der Leiter der Suchthilfe der Diakonie An Sieg und Rhein, wird Ende des Monats in Resturlaub und Ruhestand gehen. Ein Gespräch mit Nastassja Lotz über das Thema Veränderung


Jürgen Graff arbeitet seit 1992 bei der Suchthilfe. In den vergangenen fünf Jahren hat er sie geleitet. Graff liebt Herausforderungen, das Unkonventionelle, den direkten Kontakt zu Menschen und Rockmusik. Ursprünglich wollte er Lehrer werden und dann lieber doch nicht. Es folgte eine Sozialtherapie-Ausbildung, dann ging es auch schon zur Diakonie – fast: Seine Bewerbung auf eine Stelle in der „externen Drogenhilfe“ in der JVA Siegburg wurde zuerst abgelehnt, zwei Tage später stellten sie ihn doch ein. Heute sagt er, er hat seinen Weg nicht geplant, das mache es aber umso schöner, wie es gelaufen ist. Jetzt geht er nach mehr als dreißig Jahren bei der Suchthilfe in den Ruhestand. Ein Rückblick auf die letzten Jahrzehnte, die von Veränderung geprägt waren. 

Was haben Sie in der Suchthilfe verändert, worauf Sie besonders stolz sind?

Ich bin sehr stolz darauf, dass wir den Kontaktladen mit mehr Personal ausgestattet haben. Das hat viele Verhandlungen gebraucht, aber jetzt sind wir für unsere Arbeit besser gerüstet. Dass wir im Drogenkonsumraum jetzt einen Raucherraum haben, war auch lange ein Thema. 

Ich denke außerdem an das Suchtberatungsmobil, das jetzt bald zum Einsatz kommt. Damit gehen wir stärker in den ländlichen Bereich und gehen aktiv auf Menschen zu, die wir bisher noch nicht so erreicht haben. Kolleg*innen hatten außerdem die Idee für die Rhein-Sieg-Kreis-Feger, das konnte ich als Leitung dann umsetzen. Das Projekt ist sehr wichtig für unsere Streetwork. 

Diese Entscheidungen haben wir aber immer gemeinsam mit den Mitarbeitenden und den Kostenträgern getroffen. Teilweise haben auch schon meine Vorgänger an diesen Dingen gearbeitet. Ich muss sagen, ich bin in ein schon sehr gut organisiertes Haus gekommen. Ich konnte zwar auch immer eigene Akzente setzen, aber ich glaube, Veränderung und Entwicklung geht nur, wenn man als „Wir“ denkt und gestaltet. 

Wenn sich so viel in der Suchthilfe getan hat, haben Sie sich sicher auch selbst verändert, oder? Haben Sie mittlerweile andere Meinungen oder Prioritäten? 

Bevor ich in der Suchthilfe angefangen habe, habe ich in der Beratung gearbeitet. Da ging es eher darum, Leute dazu zu motivieren, einen Weg ohne Drogen einzuschlagen und vielleicht eine Therapie zu machen. Daher hatte ich den Eindruck, eine positive Entwicklung könnte am besten in Therapie passieren.  

Als ich dann zur Suchthilfe kam, war das zu einer Zeit, in der der Kontaktladen gerade zum Laufen gebracht wurde. Mir ist sofort die Niedrigschwelligkeit dabei aufgefallen. Es ging nicht nur um therapeutische Ansätze und konkrete Entwicklungsschritte, sondern vielmehr darum, unseren Klient*innen etwas Stabilität zu ermöglichen – etwas essen, sich um die eigene Gesundheit kümmern, ein sicherer Ort zum Einkehren und so weiter. Das war meinem Vorgänger Christoph Wolf immer wichtig. Über diesen Ansatz war ich zu Beginn gespalten und ich dachte, er steht im Kontrast zu meinen eigenen Vorstellungen. Aber ich musste einsehen, wie wichtig so eine akzeptierende Arbeit tatsächlich ist, das muss ich selbstkritisch so sagen. 

Heutzutage sehe ich, es gibt viele Wege. Nicht alle davon führen aus der Sucht heraus. Es gibt auch gute Wege, mit der Sucht zu leben. Das habe ich in der Arbeit hier ganz deutlich gemerkt. Ich finde es aber etwas Positives, seine Meinung zu ändern. Das sind Möglichkeiten neu zu gestalten, zu entwickeln und zu überprüfen. Wir müssen zum Beispiel auf Entwicklungen in der Szene reagieren. Wenn wir so bleiben wie immer, können wir den Menschen, denen wir unsere Unterstützung anbieten wollen, nicht gerecht werden. 

Haben Sie eine besonders prägende Erinnerung, die die Sichtweise auf Ihre Arbeit grundlegend geändert hat? 

Ich habe mitbekommen, wie viele junge Menschen gestorben sind. Früher – bevor Substitution, zum Beispiel mit Methadon, so verbreitet war wie heute – kam es öfter vor, dass Leute mit Mitte zwanzig an einer Überdosis gestorben sind, oft direkt nach der Entgiftung. Bei so einem Rückfall ist der Körper nicht mehr an die Substanz gewöhnt, das kann tödlich enden. 

Das hat mir verdeutlicht, wie notwendig es in unserer Arbeit ist, möglichst frühzeitige und niedrigschwellige Hilfen zu geben. Wir müssen früh mit den Leuten auf eine offene Art in Kontakt treten und dabei unterstützen, eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Damit können wir Menschenleben retten. 

Denn eine Sucht kommt nie allein. Sie kommt gemeinsam mit anderen Erkrankungen oder belastenden Erlebnissen. Das führt dazu, dass die Entwicklung einen anderen Lauf nimmt und dass Suchtmittel dann teilweise Hilfsmittel sein können – auch wenn sie die Lage auf lange Sicht nur verschlimmern. Mit frühzeitigen Hilfen können Menschen besser einschätzen: was ist mit mir los?  

Was war in Ihrer Zeit hier die größte Herausforderung? 

Da fällt mir das Thema „Alkohol im Kontaktladen“ ein. Es war in unserem Team total umstritten, ob wir moderaten Alkoholkonsum erlauben sollten. In einem Meeting haben alle Mitarbeiter*innen ihre Befürchtungen auf Kärtchen geschrieben. Am Ende war fast der ganze Raum voll mit den Kärtchen. Auch ich hatte so meine Bedenken. Birgt das vielleicht zu viel Aggressionspotenzial? Wir können nicht prüfen, ob das wirklich nur Bier ist – vielleicht wird Hochprozentiges reingeschmuggelt?  

Aber ich wollte nicht, dass wir in unseren Angst-Fantasien bleiben. Also haben wir beschlossen, wir können nur über eine Testphase feststellen, ob es klappen kann. Das Ergebnis: unsere Sorgen haben sich nicht bewahrheitet. Dadurch haben wir auch eine neue Akzeptanz von vielen Leuten in der Szene bekommen. 

Es kommt selten vor, dass Menschen stark betrunken sind. Aber selbst wenn – dann kann unsere Krankenpflege direkt eingreifen und helfen. Vorher hatten wir eine Realität ausgeblendet, die draußen eben existiert. Es ist besser, wenn sie bei uns umkippen, statt draußen auf den Straßen. 

Wie haben Sie es geschafft, über all die Zeit positiv und motiviert zu bleiben? 

Mein persönliches Erfolgsgeheimnis: ich arbeite seit Mitte der Neunzigerjahre dreißig Stunden die Woche. Das hat es mir immer leichter gemacht, weil ich einen guten Ausgleich hatte. Ich reise viel oder fahre Fahrrad. Dadurch war ich nicht nur fit, sondern habe mich auch nie ausgebrannt gefühlt. 

Wenn es darum ging, mit schweren Themen aus dem Arbeitsalltag umzugehen – wie zum Beispiel Tod – hat es mir geholfen darauf zu gucken, dass wir aber auch wirklich helfen können. Wie bereits erwähnt, sind früher viele Menschen jung gestorben. Heute werden viele suchtkranke Menschen dank der Überlebenshilfen deutlich älter. Das ist auch ein Verdienst der Suchthilfe. 

Ich sehe einen Sinn in meiner Arbeit. Die positive Entwicklung von vielen Menschen zu sehen, motiviert mich. Wir machen praktische, gute soziale Arbeit, wir unterstützen Leute und bevormunden sie nicht. Auch kleine Unterstützungen wie im Café Koko bringen sehr viel. Menschen zwischendurch Glücksgefühle zu geben – das ist sinnhaft. 

Jetzt ändert sich ja nochmal ganz grundlegend etwas: Was werden Sie mit dem Ruhestand anfangen? 

Ich gehe mit einer großen Dankbarkeit. Ich blicke zurück und sehe bei vielen Dingen: Ich habe es so nicht geplant, aber es war sehr schön, dass es so gekommen ist. Ich bin froh über alle Möglichkeiten, die ich hatte und über all die netten Menschen, die ich kennenlernen durfte. 

Fürs Erste werde ich verreisen. Es geht nach Italien und Griechenland. Ich freue mich, dass ich diese Reise ohne ein festes Ende planen kann. Was danach kommt, schaue ich, wenn es soweit ist. 

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